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21. Juli 2021 | Allgemein

UNESCO-Welterbe und Musik: Erzgebirgische Tradition erklingt seit über 500 Jahren

Am 21. Juli 2021 fand der 525. Bergstreittag in der Bergstadt Schneeberg statt. An diesem Tag gedenken die Erzgebirger ihrer Vorfahren, die sich im Jahre 1496 bessere Entlohnung für ihre Arbeit im Bergbau erstritten. Was einst ein Streiktag war, ist heute ein kultureller Höhepunkt in der Region. Traditionspflege, Musikkultur und Gemeinschaftssinn vereinen sich an diesem […]

Am 21. Juli 2021 fand der 525. Bergstreittag in der Bergstadt Schneeberg statt. An diesem Tag gedenken die Erzgebirger ihrer Vorfahren, die sich im Jahre 1496 bessere Entlohnung für ihre Arbeit im Bergbau erstritten. Was einst ein Streiktag war, ist heute ein kultureller Höhepunkt in der Region. Traditionspflege, Musikkultur und Gemeinschaftssinn vereinen sich an diesem Tag zu einem besonderen Erlebnis im UNESCO-Welterbe Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří. Auf den Sächsischen Landesbergmusikdirektor Jens Bretschneider und sein Schneeberger Musikkorps sind dann alle Augen gerichtet.

Von seinem Büro aus schaut Jens Bretschneider genau auf die Südfassade des Bergmannsdoms Sankt Wolfgang in Schneeberg. Wir trafen uns an einem strahlenden Sommertag, dem 6. Juli 2021, zum Interview. Was für ein Ausblick. Wir hatten also unser Gesprächsthema, zu dem wir verabredet waren, direkt vor Augen. Der Berggottesdienst in der spätgotischen Hallenkirche (geweiht 1540) bildet immer den Schlussakkord des Bergstreittages.

Auf seinem Besprechungstisch liegen verschiedene seiner Visitenkarten bereit. Dies lässt einen auf den ersten Blick denken, Jens Bretschneider sei Profimusiker. Aber nein, er übt alle seine Musiker- und Vereinsfunktionen im Ehrenamt aus, übernimmt seit Jahren viele Repräsentationsaufgaben für das Musikkorps der Stadt Schneeberg, für die Region Erzgebirge und das Land Sachsen. „Ich mache das alles aus Leidenschaft für die Musik und das Erzgebirge“, betont er.

Beim Rückblick auf die letzten Monate wird Bretschneider ein wenig wehmütig. Die Kultur habe unter der Corona-Pandemie und ihren Einschränkungen enorm gelitten. Seit acht Monaten konnte er nicht mit seinem Musikkorps, das zugleich als Landesbergmusikkorps Sachsen fungiert, gemeinsam proben. „Jeder hupte nur für sich allein zu Hause“, sagt er. Das sei für das ganze Ensemble eine schwere Bewährungsprobe gewesen.

Auch beruflich hat Bretschneider die Folgen der Krankheit hautnah mit allen Schwierigkeiten erlebt, denn er leitet als einer von zwei Geschäftsführern das Gut Gleesberg, ein Pflege- und Wohnheim für Senioren in Schneeberg. Der Sommer und die sinkenden Corona-Zahlen lassen ihn einigermaßen durchatmen. Endlich sei auch wieder mehr Zeit für die Musik. Das sei ganz wichtig, unterstreicht er: „Kultur und Musik halten eine Gesellschaft als Gemeinschaft zusammen, fördern geistige Bildung und persönliche Weiterentwicklung.“

Kritisch beobachtet er seit Jahren die Verrohung in der Gesellschaft. Der aggressive Umgang der Menschen miteinander, vermutet Bretschneider, könne ein Symptom dafür sein, dass Kultur, Musik und Bildung in vielen Familien auf dem Rückzug seien. Ganz anders ist sein Lebensweg gewesen. „Meine musikalische Heimat ist von Kindheit an das Klavier.“ Vater und großer Bruder spielten Trompete, waren immer aktiv in Orchestern. Ihre Erzählungen von Auftritten und Konzertreisen begeisterten den jungen Pianisten. Später lernt er deshalb noch Posaune hinzu.

„Über die Musik kam ich zur Bergmännischen Tradition.“
Jens Bretschneider

Auch er findet 1992 als Jugendlicher Aufnahme in ein Orchester: das Musikkorps der Bergstadt Schneeberg. Dort erlebt er zum ersten Mal die Bergmusik, spielt mit auf beim Bergstreittag, zu anderen Bergparaden oder zum Lichtelfest in der Weihnachtszeit. Diese Erfahrungen sollten ihn tief prägen. Die Begeisterung dafür hat ihn nie wieder losgelassen. In wenigen Tagen wird er selbst als Orchesterleiter und Dirigent das Landesbergmusikkorps beim Bergstreittag anführen. Doch dazu später mehr.

„Irgendwann fing ich als junger Mensch an, darüber nachzudenken, warum jede Bergstadt ihren eigenen Bergmarsch hat“, erinnert sich Jens Bretschneider. Fragen stellte er sich als junger Mann: Warum ist Schneeberg eine Bergstadt? Warum gibt es heute noch Bergparaden? Warum sind die Menschen von der Bergmusik heutzutage so begeistert? Über Jahrhunderte entwickelten sich in der Bergbaukultur des Erzgebirges ein wahrer Musikschatz und ein reiches, auch religiös geprägtes Liedgut. Bergmannsstolz, berufsständisches Brauchtum und christliche Frömmigkeit gingen eine Symbiose ein, die die Tradition und die Gemeinschaft im Erzgebirge bis heute prägen.

Ein Schlüsselerlebnis war für Bretschneider der 8. Deutsche Bergmannstag 1998 in Schneeberg, bei dem der damalige Bundespräsident Roman Herzog zu Gast war. Das Großereignis mit zehntausenden Gästen aus ganz Europa brannte sich tief in sein Gedächtnis ein. „Da habe ich zum ersten Mal wirklich begriffen, welche Dimensionen die bergmännische Kultur hat“, sagt er rückblickend. So ergriffen von der Tradition, übernahm er schon früh Verantwortung, etwa als Leiter eines Bläserquintetts und des Posaunenchors der Evangelisch-Methodistischen Kirche in Schneeberg.

„Das Dirigieren hat mich gepackt und nie mehr losgelassen.“
Jens Bretschneider

Damit reifte über die Jahre sein Ehrgeiz, sich zum Dirigenten weiterzubilden. 2001 bis 2003 besuchte er Seminare beim Rundfunkblasorchester Leipzig. „Mein damaliger Dozent Jochen Wehner verstand es“, so spricht Bretschneider voller Verehrung für seinen Lehrer, „mich richtig zu begeistern. Das Dirigieren hat mich gepackt und nie mehr losgelassen.“ 2009 übernimmt er in der Nachfolge von Hermann Schröder die Verantwortung als Leiter für das Musikkorps der Bergstadt Schneeberg. Es ist der Lohn für viel Engagement seit der Kindheit, zugleich Dankbarkeit und Verpflichtung seinem Mentor gegenüber. „Im Rückblick empfinde ich meine Jugend, mein Heranwachsen in der Gemeinschaft eines so tollen Klangkörpers als ein großes Geschenk.“

65 Musiker sind im Musikkorps aktiv. Das will gemanagt werden. Seine Freizeit im Sinne ganz freier Zeit ist knapp bemessen. Ehrenamt ist jedoch für ihn nicht nur Verpflichtung, sondern auch große Freude und Zeit mit Freunden. Vor wenigen Tagen kamen die Musiker das erste Mal nach acht Monaten wieder zur Probe im Kulturhaus „Goldene Sonne“ zusammen. Die sinkende Corona-Inzidenz lässt dies endlich zu. Für Jens Bretschneider ist es eine große Herausforderung, das Ensemble innerhalb weniger Tage auf den Auftritt zum 525. Bergstreittag vorzubereiten.

Ein Streik im 15. Jahrhundert wird als Festtag bis heute gefeiert

Im Jahre 1496 wollten die Schneeberger Bergwerke aufgrund steigender Betriebskosten den Lohn der Bergleute senken. Aber die Knappschaft des Reviers Schneeberg kämpfte mit einem Streik um die Entlohnung. Mit Erfolg: Die Lohnkürzung wurde zurückgenommen. Seitdem begehen die Schneeberger diesen Tag als Festtag immer am 22. Juli, egal auf welchen Wochentag dieser fällt, und präsentieren sich mit ganzem Stolz der Region und zelebrieren ihr Brauchtum.

Familie Bretschneider ist mit viel Herzblut dabei. „Meine Frau ist für mich eine große Stütze, um all das neben dem Beruf tun zu können. Vom Musikgeschmack her sind wir allerdings sehr unterschiedlich. Es muss nicht jeder Klassikfan sein wie ich“, schmunzelt er. Seine jüngste Tochter lernt Klavier, die mittlere Tochter lernt Flöte, sein Sohn Noah, der älteste der Geschwister, lernt Klavier und Tenorhorn. Gemeinsame Auftritte mit dem Vater absolvierte Noah schon einige, sang sogar im Duett mit ihm zu Weihnachten im Leipziger Gewandhaus.

Bretschneider stellt mit einiger Strenge klar, dass er dabei nicht Vater sei, sondern Dirigent und Orchesterleiter. Noah müsse genauso fleißig üben wie alle anderen Musiker im Schneeberger Musikkorps. Musik sei eben für das Publikum nur dann ein Genuss, so betont er, wenn sie mit Anspruch eingeübt und vorgetragen werde: „Trotzdem steht für mich die Familie an erster Stelle. Aber ich könnte nicht ohne Musik leben. Musik ist mein Anker, mein seelischer Halt, aber auch Ladestation für neue Energie.“

Alle Musikerinnen und Musiker des Bergmusikkorps fiebern bei den nächsten Proben dem Auftritt zum 525. Bergstreittag entgegen. Das Zusammenspiel muss erst wieder wachsen. Atmung und Muskulatur der Bläser müssen wieder trainiert werden. Alle müssen wieder in den Proben- und Auftrittsrhythmus finden. Die Bergparade durch Schneeberg und der Berggottesdienst im Bergmannsdom St. Wolfgang werden allerdings in diesem Jahr Corona-konform reduziert veranstaltet. Das große Abschlusskonzert wird ganz ausfallen. „Wir werden deshalb ein kleineres Repertoire an Stücken spielen. Das kommt uns in dieser Situation entgegen“, räumt Jens Bretschneider ein.

Der große Tag: Bergparade und Berggottesdienst zum 525. Bergstreittag in Schneeberg

Der Bergstreittag fällt diesmal auf einen Donnerstag. Das Erzgebirge präsentiert sich den einheimischen Akteuren und Besuchern aus ganz Deutschland mit echtem Feiertagswetter: blauer Himmel, kleine Wölkchen, kräftige Sommersonne. Schon am Nachmittag füllen sich die Straßen, entlang derer die Bergparade ziehen wird. Am Schneeberger Markt herrscht reges Treiben. Es ist beinahe Volksfeststimmung. Die Menschen sind froh, nach Monaten des kulturellen Stillstandes endlich wieder etwas zu erleben.

Gespannt warten alle darauf, die Klänge der Bergmärsche des herannahenden Bergparadenzuges zu hören. Laut Zeitplan hat die Parade einige Minuten Verspätung. Dann endlich klingt es in der Ferne und kommt immer näher. Beim Einbiegen der Bergparade auf die Marktstraße füllen die klangkräftigen Bergmärsche die Atmosphäre zwischen den Häuserfassaden vollkommen aus. Der Zug hält für ein paar Minuten und spielt ein paar Stücke.

Jens Bretschneider ist umgeben von Schaulustigen. Blitzlichter der Presse. Fernsehkameras. Unzählige Handys. Doch alle halten sie gebührend Abstand vom Landesbergmusikdirektor. Seine Uniform mit Goldbesatz strahlt Autorität aus. Seine Musikerinnen und Musiker lassen ihn nicht aus den Augen, scheinen unbeeindruckt vom Gewimmel ringsum. Der Taktstock schwingt souverän, die Marschmusik tönt exakt in seinem Rhythmus.

Zackig wie ein Bergmarsch beginnt, endet er auch: mit einem Streich des Taktstockes. Ein kurzer Moment der Stille tritt ein. Dann folgt ein Kommando. Die Bergparade setzt sich wieder in Bewegung. Bergbrüderschaften aus dem ganzen sächsischen und böhmisch-tschechischen Erzgebirge ziehen jetzt am Publikum vorbei. Dann teilt sich der Zug. Nur eine kleine Abordnung zieht über dem Marktplatz bergauf zum Bergmannsdom. An St. Wolfgang empfängt Pfarrer Frank Meinel die Bergparade. Das evangelisch-lutherische Kirchenhaus, während der Reformationszeit gebaut, füllt sich mit Gemeindemitgliedern und Gästen.

Das Landesbergmusikkorps, die Bergkapelle Schneeberg und die Bergbrüderschaft Schneeberg ziehen in die Kirche zum Berggottesdienst ein. Jens Bretschneider dirigiert zum Einmarsch, dann übergibt er an den Pfarrer und den Kantor. Seine Musiker und er nehmen Platz. Alle Blicke sind jetzt auf Pfarrer Meinel gerichtet, als er seine Kanzel betritt, und auf den Altar mit seinem Bildertriptychon. Dieser ist ein bedeutendes sächsisches Kunstwerk mit überregionaler Bedeutung in der Kunstgeschichte der Reformation. 1531/32 wurde Lucas Cranach der Ältere vom sächsischen Kurfürst Johann dem Beständigen dafür beauftragt.

Neben Jens Bretschneider sitzt sein Sohn Noah. Die Anspannung des Tages lässt langsam nach. Alt und Jung, alle Generationen sind am Höhepunkt dieses Festtages miteinander in der Kirche vereint. Und genauso war es seit jeher. Deshalb leben seit Jahrhunderten Tradition, Kultur und Gemeinschaft der Bergleute im Erzgebirge weiter. Bis heute. Und mit Sicherheit auch in Zukunft. Das ist einmalig auf der Welt und einer der Gründe, warum die Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří von der UNESCO zum Welterbe tituliert worden ist.

www.musikkorps-schneeberg.de
www.bergstadt-schneeberg.de
www.montanregion-erzgebirge.de

Fotos: Georg Ulrich Dostmann, www.erz-foto.de

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